12.03.2003
Opferzahlen kleinreden und totschweigen –
Bernd Schmidt, 52 Jahre, obdachlos, stirbt am 31. Januar 2000 im sächsischen
Weißwasser an seinen Kopfverletzungen. Drei Tage lang prügeln
zwei rechte Jugendliche ihn in seiner Baracke zu Tode. Vor Gericht geben
die Täter an, sie hätten 900 Mark für ein Moped erpressen
wollen. Dafür zerstörten sie seine Baracke und die wenigen Habseligkeiten.
Im Urteil vom 10. Juli 2000 schätzt das Gericht ein, zumindest einer
der Täter habe die Auffassung vertreten, daß »Obdachlose,
so-zial Schwache und Ausländer wenig wert sind und kein Recht auf
Unversehrtheit« hätten. Er habe Obdachlose den Ermittlern gegenüber
als »menschlichen Schrott« bezeichnet. Die beiden Täter
wurden zu sieben und viereinhalb Jahren Jugendhaft verurteilt. In der Statistik
des Bundesinnenministeriums (BMI) zur »politisch motivierten Kriminalität
– rechts« taucht der Fall – wie viele andere – nicht auf.
Die seit Anfang 1993 vorgelegten Statistiken der Bundesregierung waren indes immer weit davon entfernt, das Ausmaß rechter Gewalt realitätsgemäß wiederzugeben. Bereits im Sommer 2000 hatte die ARD-Fernsehsendung »Panorama« von 117 Fällen gesprochen. Das BMI nannte zum gleichen Zeitpunkt lediglich 24 Todesopfer. Heute zählt die Bundesregierung ganze 39 Opfer. Dabei hat das BMI selbst eingeräumt, »Schwachstellen« bei der Erfassung dieser Verbrechen seien unter anderem die »erheblichen Bewertungsspielräume der Länder« und »Erfassungsdefizite für bestimmte Fallgruppen«. Gerade in der Opfergruppe der Obdachlosen sind diese Erfassungsdefizite besonders gravierend. In der Aufstellung der FR von 2001 finden sich 16 getötete Obdachlose. Das sind 17 Prozent aller gezählten Todesopfer rechter Gewalt. Mit dem 1. Januar 2001 sollte zumindest die statistische Erfassung anders werden. Ein neues Meldeverfahren sollte nun »politisch motivierte Kriminalität«, also auch neofaschistische Gewalt, wird erfassen. Doch in den aktuellen amtlichen Statistiken nach der neuen Methode hat sich nichts geändert. Es wird weiter bagatellisiert und verschwiegen. Offizielle Statistiken zu den Opfern staatlicher Gewalt gibt es aus naheliegenden Gründen schon gar nicht. Es handelt sich ja auch größtenteils nicht um Staatsbürger dieses Landes, sondern in der Mehrheit »nur« um Flüchtlinge und illegale Einwanderer, denen mit größter Selbstverständlichkeit wesentliche Menschenrechte gar nicht erst zugestanden werden. Die dringend nötige Gegenöffentlichkeit schafft hier unter anderem die Antirassistische Initiative Berlin (ARI). Sie hat gerade die zehnte aktualisierte Auflage ihrer Dokumentation der tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik veröffentlicht. In der 260seitigen Broschüre finden sich sowohl Berichte über mehr als 3000 Einzelschicksale als auch Zahlen zu Todesopfern während der letzten zehn Jahre. Detailliert werden die menschenunwürdigen Lebensbedingungen von Flüchtlingen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, also entweder keine Papiere besitzen oder sich im Asylverfahren befinden, geschildert. Gleichzeitig werden die konkreten Folgen der Änderungen des Asyl- und Ausländerrechts während der vergangenen 20 Jahre nachgezeichnet. Eine »Armee von Schreibtischtätern und ein Heer von Polizei- und Bundesgrenzschutzbeamten stehen dem einzelnen Flüchtling gegenüber«, schreiben die Verfasser der Dokumentation, um am Ende die »Abschiebung, durchgesetzt mit allen Tricks und vor allem mit Gewalt«, zu erreichen. Ein Beispiel für die Folgen der deutschen Abschottungspolitik, in der Broschüre dokumentiert: Der heute 37jährige Professor Davinder Pal Singh Bhullar wurde am 18. Januar 1995 mit einer Lufthansa-Maschine nach Indien abgeschoben. Hier wurde er sofort festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Man warf ihm die angebliche Beteiligung an einem Bombenattentat vor. Unter Folter entstand ein »Geständnis«, das er später widerrief. Doch allein aufgrund des erzwungenen Geständnisses wurde Davinder Pal Singh Bhullar am 24. August 2001 zum Tode verurteilt. Die Entscheidung über ein Gnadengesuch an den Präsidenten vom 16. Januar 2003 wird täglich erwartet. Wird es abgewiesen, ist damit zu rechnen, daß der Mann unmittelbar danach hingerichtet wird. Vor seiner Flucht aus Indien war Davinder Pal Singh Bhullar als Führungsmitglied der Khalistan-Liberation-Force und der Sikh Student Federation politisch aktiv gewesen. Seit 1983 war er mehrere Male von der Polizei festgenommen und zum Teil wochenlang mißhandelt worden. Sein Asylantrag wurde von den deutschen Behörden jedoch abgelehnt. Am 6. Oktober 1997 stellte das Frankfurter Verwaltungsgericht rechtskräftig fest, daß er nicht hätte ausgewiesen werden dürfen, weil drohende Folter und Todesstrafe eindeutig Abschiebehindernisse darstellen. Die ARI-Recherche umfaßt den Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis zum 31. Dezember 2002. Allein die Zahlen sind erschütternd: 137 Flüchtlinge starben auf dem Weg in die BRD oder an den deutschen Grenzen, davon allein 106 an der deutschen Ostgrenze. 111 Flüchtlinge starben durch Selbsttötung angesichts ihrer drohenden Abschiebung, 45 von ihnen in der Abschiebehaft. Fünf Menschen starben während ihrer erzwungenen Ausweisung, 206 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen des BGS während der Abschiebung verletzt. 18 Abgeschobene kamen in ihren Herkunftsländern zu Tode, und mindestens 337 von ihnen wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert. Mindestens 44 Menschen verschwanden nach der Abschiebung spurlos. Zehn Flüchtlinge starben durch Polizeimaßnahmen und mindestens 272 wurden dabei verletzt. Auch Angriffe aus der deutschen Bevölkerung sind in der Broschüre dokumentiert: 57 Flüchtlinge starben in Folge von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, mindestens 582 wurden zum Teil erheblich verletzt. Die Zahlen werden sich mit der Bilanz 2003 erneut drastisch erhöhen.
Allein im Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau haben bis zum heutigen
Tage 21 Flüchtlinge versucht, sich zu erhängen und 35 sich zum
Teil schwere Schnittverletzungen zugefügt. Innensenator Ehrhart Körting
(SPD) ist bislang allenfalls zu kosmetischen Veränderungen in diesem
Gefängnis bereit. Die Menschenwürde bleibt dabei weiter auf der
Strecke.
|